Julie Fahrenheit, jung
Ich war die Klassenbeste und mein Foto hing in einer Galerie auf dem Schulflur der Karl-Marx-Schule in Brandenburg/Havel. Ernst habe ich geguckt und ein blaues Halstuch hatte ich um, leider habe ich nie einen Abzug bekommen. Ich fand es gut, da auf dem Flur zu hängen, ich war schon immer etwas eitel, und zur Strafe wurde ich ja ab und zu von anderen Kindern dumm angemacht wurde. Nerd würde man vielleicht heute sagen, eine Streberin war ich nie.

In der dritten Klasse durfte ich auf eine andere Schule gehen, um dort Englisch-Unterricht zu bekommen. Ich fuhr mit dem Bus hin und einmal auf der Rückfahrt stieg ich in den falschen und landete am Rand der Stadt und lief weinend nach Hause. Ich liebte Englisch, an den Rest erinnere ich mich nicht mehr so genau. Nur, dass ich dann in der vierten Klasse wieder zurück in meine alte Schule ging, weil das mit der Extrawurst abrupt beendet wurde, so wie die DDR.

Mir war es egal, ich war wieder bei meinen alten Freunden und immernoch die Klassenbesserwisserin. Wir fuhren auf den Weihnachtsmarkt in West-Berlin, die Kelly-Family gab Konzerte auf dem Platz vor der Schule und es gab jetzt Döner. Nichts war anders und alles hat sich geändert. Ich habe nur ansatzweise verstanden, dass diese Dinge früher nicht hätten passieren können und manchmal habe ich den gelee-artigen Joghurt vermisst, den es früher in der Kaufhalle gab. Ich weiß nicht mehr, wo wir im Sommer 1989 im Urlaub waren, ich schätze an der Ostsee, auf keinen Fall in Prag oder Ungarn. Meine Familie war zufrieden und normal, wir wohnten in der Platte und uns ging es gut. Dass es vielen anderen schlecht ging, wusste ich nicht und um mich eingesperrt zu fühlen, war ich zu klein.

 

Julie Ostsee

 

Ich frage mich heute, wie es weitergegangen wäre mit mir. Später war ich ja durchaus vorlaut und konnte es nicht erwarten mit 18 auszuziehen und um die Welt zu reisen. Wollte ich das, weil ich es selbstverständlich konnte? Mein Mutter sagt, sie hat sich nie eingesperrt gefühlt und ihren 50. Geburtstag vor drei Jahren feierten wir in New York City. Bis auf die Fotos von damals ist nichts Schwarz-Weiß. Gerade laufen viele Reportagen und Dokumentationen, es geht um damals und heute und dazwischen. Ich weiß, dass es einer der größten Glücksfälle meines Lebens ist, genau in dieser Zeit geboren zu sein. Spät genug, meine ich, um genau die Freiheiten zu haben, die ich gebraucht und genutzt habe. Ich bin denjenigen dankbar, die damals in Leipzig, Dresden, Halle und Berlin auf die Straße gegangen sind und damit alles riskiert haben. Und ich wünschte, ich hätte mitlaufen können und hoffe, ich hätte genau das getan. Letztens habe ich etwas über die Teilung, die man noch immer sieht, bei Facebook gepostet und ein Bekannter schrieb drunter, dass diese Dinge nur von seinen ostdeutschen Kontakten geteilt würden, er frage sich warum. Ich glaube, ich weiß es: Anders als bei ihm, ist diese Geschichte meine Geschichte, auch wenn ich nur daneben stand.
McFahrenheit
PS: Christian Bangel hat bei Zeit Online einen tollen Text dazu geschrieben, auch wenn bei mir manche Sachen anders waren und sind.

PPS: Und ich empfehle hiermit allen die Serie “Weissensee”, bald gibt es auch neue Folgen!

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